Aus: Hans Nürnberger – Schilderungen, Mundartgedichte und Erzählungen aus dem Oberpfälzer Wald, Eigenverlag 1990.
Wer nicht zwischen Hiener und Reiseck geboren ist, dem kann es passieren, daß er im Erholungsort Gleißenberg keine Auskunft erhält, wenn er sich nach dem Domizil des Herrn Gruber oder nach dem Befinden des Herrn Feiner erkundigt. Um seine Neugierde zu befriedigen, würde er besser fragen, wo der „Micherlpeternmichl“ wohnt bzw. wie es dem „Schneidermicherlrupert“ geht. Denn eines müssen die Feriengäste wissen: In Gleißenberg führen die Einheimischen nicht einen und nicht zwei, sondern mindestens drei Namen, einen Taufnamen, einen Schreibnamen und einen bodenständigen Hausnamen, wovon der Hausname der bekannteste, urwüchsigste und ehrwürdigste ist. Er hat seinen Sinngehalt und seine Geschichte; sein Wortbild umschließt mitunter eine halbe Ahnenreihe; seine Beständigkeit gleicht der von Wurzelwerk und Liebe. Gleißenberg (von Gleizzenberg = Gläzzenberg; Gläzzn = Weideland) taucht bereits im Jahre 1262 als selbständige Pfarrei aus dem Dunkel der Vergangenheit auf.
Um diese Zeit gab es außerhalb landesherrlicher, kirchlicher und stadtbürgerlicher Kreise noch kaum Schreibnamen. Unsere Waldbauern, Gütler, Häusler, Holzarbeiter und Korbflechter benannten sich im auslaufenden Mittelalter, wie auch in der beginnenden Neuzeit (16./17. Jhdt.) gegenseitig meist nur mit ihren Taufnamen. Aus den Taufnamen erwuchsen jedoch wie von selbst entsprechende Hausnamen, sobald der „Nigl“, der „Lenz“, der „Lutz“, der „Toni“, der „Urschl“ oder der „Christl“ zu Haus und Hof kamen. Diese Haus- und Hofnamen bestehen in Gleißenberg und Gschwand (von schwinden Wald und Steine verschwinden lassen = urbar machen) noch heute, und es liegt auf der Hand, daß hier die Heiligen Nikolaus, Lorenz, Lucia, Antonius, Ursula und Christus selber als Taufpatrone erkoren wurden. Um Geschlechterfolge und Ahnenreihe festzuhalten, reihten die Gleißenberger über Jahrhunderte hinweg die Taufnamen ihrer Urgroßväter und Großväter, Väter und Söhne einfach aneinander. So entstanden familiäre „Namensketten“, die sich mit den bereits vorhandenen Hausnamen weithin deckten und vererbten. Im allgemeinen umfaßten solche „Ahnenreihen“ drei Glieder wie z.B. der „Wölflanderlsepp“ (Wolfgang-Andreas-Josef), der „Gangerlgirglhans“ (Wolfgang-GeorgJohannes), der „Barthlutznfranz“ (Bartholomäus-, Kirchenpatron von Gleißenberg, Lucia-Franziskus), der „Kasperlenznrichard“ (Kaspar-Lorenz-Richard).
Auch diese Namen haben alle Wirrnisse und Wandlungen der Zeit bis heute überdauert und sind den älteren Dorfbewohnern wohlvertraut. Mag ein Hof oder Anwesen im Lauf der Jahre noch so oft den Besitzer gewechselt haben, der „Barthlutz“, der „Barthlgirgl“, der „Kaspalenz“, der „Hanslutz“ und der „Joglwilli“ fühlen sich mit ihren Hausnamen noch immer wesensgleich, obwohl sie im amtlichen Personalverzeichnis als die Herren Weihrauch, Lankers, Willfurt, Plötz und Reitmeier aufgeführt sind.
Die anfängliche Namensgebung erfuhr eine individuellere Kennzeichnung und sprachlichere Bereicherung dadurch, daß man mit den Taufnamen später auch die Berufsbezeichnung ihrer Träger verband. Auf diese Weise kam es zu originellen Neubildungen wie z.B. der „Webergirglhein“ (Leinenweberei und Flachsbau waren noch bis zum ersten Weltkrieg in unserer Gegend heimisch), der „Fischerhanslmax“ (die Fischerei ist ein uraltes bodenständiges Gewerbe), der „Bodahansnmich“.
(Boda = Bader), der „Koufahanslfranz“ (Koufa = Kufner = Hersteller von Schlittenkufen oder ausgehobelter Kufen für Zuber und Fässer), der „Holzschustermich“ (Holzschuhe werden vereinzelt noch heute getragen), der „Bäckerflori“, der „Wagnerhans“, der „Mühlg’feri“, der „Hebammgang“ (Sohn der früheren örtlichen Hebamme), der „Schmiedsepp“, der „Wagnermukntoni“ (muk von Nepomuk, dem böhmischen Heiligen, der wegen Wahrung des Beichtsiegels in der Moldau ertränkt wurde), der „Zimmermaluck“ (luck = Ludwig), der „Miurerhans“, der „Forsteralis“ (von Forster = Förster und Alois) , der „Metzgerflori“ (Florian), der „Kramerbauerngang“ (Kramer = Krämer), der „Steinbauernment“ (ment = Klement), der „Platzerpeter“ (Platzer von „Plätzen“ – entstammt der Waldarbeit – bedeutet Weghacken von Rindenstükken an Bäumen, um diese zu kennzeichnen oder zum Austrocknen zu bringen), der „Hutererottl“ (Otto, Sohn des Hutmachers), der „Riederermax“ (rieden = roden), die „Weberschneiderrosl“, der „Grabberlhans“ (vermutlich von graben – wie auch Gruber der Turnerkonrad“, der „Pfeiferlmochagirgl“ (der Pfeiferln und Pfeifen schnitzte), die „Schusterchristlannamir“ (Anna-Maria) und andere.
Die ganze „Zunft“ erster Handwerker eines abgelegenen, auf sich selbst gestellten und sich selbst versorgenden Grenzwalddorfes zieht hier an uns vorüber als Spiegelbild härtester Arbeit und ärmlichster wirtschaftlicher Verhältnisse, aber auch unermüdlichen Fleißes und beachtlicher kultureller Leistung. Die aufgeführten Hausnamen existieren noch alle in unserem Tal, obwohl die eine oder andere Hausbesitzerin längst ausgestorben ist. Die Hausnamen griffen naturgemäß auch auf Grund und Boden und besonders Sachverhalte über. So durchstreifen die Schwammerlsucher noch heute mit Vorliebe die „Schneidermicherlwies“, das „Koufahanslholz“, das „Tonibirkett“ und den Jungwald um den „Maurerhugl“; Besenreisig sucht man um den „Schuhmannbühl“ (Bühl = steiniger Hügel) und „Platterlpech“ (= flüssiges Tannenharz) im „Kramerloch“ (= steinübersätes Waldstück am Geiganterberg). Der „Micheracker“ (sieben Tagwerk groß) befand sich früher im Besitz eines Weihrauch-Michael, ging später durch Kauf an den „Schmidbräu“ über und wird zur Zeit vom „Hoibauernsepp“ bewirtschaftet (Hoibauer = Halbbauer – vgl. Brunner, „Geschichte des Bezirksamtes Cham“). Der „Stüblfranz“, der „Fritznschuster“ und der „Löschnmartin“ sind schon lange tot, der „Voglmich“, der „Häuslpeter“ und der „Stifterhermann“ aber liegen noch tüchtig im Geschirr. Der „Kleingirgl“ trank sein Bier droben beim „Christlwirt“, der „Hackerlalis“ drunten beim Bräu.
Als im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts die bayerischen Lehensherrn, Herzöge, Kurfürsten und Könige einer geordneten staatlichen Verwaltung wegen offiziell Schreibnamen und Hausnummern einführten und Grund und Boden vermessen ließen, waren die bei uns zutiefst eingewurzelten Hausnamen nicht mehr auszureden. Hartnäckig und selbstsicher setzten sich viele auch als amtliche Familiennamen durch. So wimmelt es in den Melderegistern und Einwohnerlisten der Gemeinde Gleißenberg noch heute von Schmid’s, Christlls, Meier’s (Reitmeier – Dobmeier), Gruber’s, Fischer’s und Nachreiner’s (als man noch „in der Zeile“ die Felder bebaute, lagen die Grundstücke am gemeinsamen Zufahrtsweg aufgereiht wie Perlen an der Schnur; man mußte beim Säen und Ernten auf die Anrainer (= Angrenzer) Rücksicht nehmen, besonders auf Vor- und Nachrainer). Durch Heirat, Geburt und Tod, durch das Aussterben ganzer Geschlechter in Pest- und Hungerjahren (1634, 1742, 1772), durch Abwanderungen aus der unwirtlichen, wenige Verdienstmöglichkeiten bietenden Gegend (vor allem im 19. Jhdt.), durch Zuzüge (Neuansiedlung von Flüchtlingen) nach dem zweiten Weltkrieg und andere Faktoren änderte sich naturgemäß auch das Namensbild der Gleißenberger Bürger. Doch unberührt vom Strom der Zeit, von allem Kommen und Gehen, bestehen die überlieferten Hausnamen lebendig fort, als gehörten sie unabdingbar zu den Bergen und Wäldern ringsum.